Meine ersten 50 Jahre

Anno 1962 erblickte ich als Stammhalter meiner Sippe im Münsterland das Licht der Welt. Die Freude war bei allen riesig. Bis sie mich zum ersten mal gesehen haben.

Der sieht aber komisch aus im Gesicht, waren die ersten Kommentare. Und ab da ging die Lauferei meiner Eltern mit mir los. Von einem Arzt zum anderen. Keiner wusste so wirklich irgendwas. Also ab zur Uni. Wie es in einer Uni-Klinik so ist, kommt erst der Assistenzarzt, dann der Arzt und Oberarzt, und zum Schluss der Professor. Auch diese wussten alle nicht viel. Also erstmal in einer anderen Abteilung vorstellig werden. Und auch hier wieder dieselbe Prozedur bis der Prof. dran war.
So ging es von der Hautklinik zur HNO-Klinik, Augenklinik usw. Ich glaube bis auf die Frauenklinik war ich als Kind in jeder Abteilung.
Bei einer Vorstellungsrunde im Hörsaal sagte jemand, ich wäre ein interessanter Fall. Das brachte meine Mutter auf 180. Ich dagegen habe es als Kind immer spannend und interessant gefunden.

Mit 2 Jahren kam ich in den Kindergarten und lernte dort meine erste große Liebe kennen. Die Erzieherin Maria nahm mich immer auf den Arm, wenn ich mal leichtes Nasenbluten hatte.
Mit ca. 7 oder 8 Jahren sollte eine Schichtdarstellung meiner Erkrankung am Kopf gefertigt werden. Da es noch kein MRT gab, wurde ich 6 Stunden lang geröntgt, wobei die Stellung immer nur um wenige cm verändert wurde. Auf der Heimfahrt bin ich sofort vor Erschöpfung eingeschlafen.

Die anschließende Diagnose war Blutschwamm. Man könne und sollte nichts machen.

In der Grundschule fand ich meine 2. Große Liebe. Meine Deutschlehrerin Hildegard. Sie tröstete mich, wenn mich ein paar andere Kinder gehänselt hatten.

Mit 10 Jahren wurde mir in einer Hautklinik das Lippenbändchen entfernt, damit meine Oberlippe nicht so absteht. Der Krankenhausaufenthalt dauerte damals 4 Wochen, Besuchszeiten war nur Mittwochs- und Sonntagsnachmittags. Auch nur für Eltern.

Heute gibt es Elternzimmer und Besuchszeiten fast rund um die Uhr.

Irgendwann bekam ich mal in einer Hautklinik Make-Up um den "roten Fleck" im Gesicht abzudecken. Dieses hab ich einmal ausprobiert und dann nie wieder. Meine Mutter sagte mir, das ich damals gesagt hätte, das sei nicht ich.
Zu diesem Zeitpunkt etwa hab ich mir dann gedacht, ihr könnt mich alle mal. Von den paar Idioten lasse ich mich nicht mehr ärgern und beleidigen.

Meine Eltern hatten früher immer unterschiedlich Schichtarbeit, so dass ich nachmittags erst immer draußen spielen musste. Ich hatte immer Freunde. Als Kind genauso wie als Teenager. Es kamen dann auch Freundinnen dazu. Wir wurden zwar manchmal von den Mitschülern ausgelacht, aber als die mich kennenlernten, war alles im grünen Bereich. Ein paar Eltern meiner Freundinnen wollten mich ihren Töchtern ausreden. Zum Glück hören ja Teenager nicht auf ihre Eltern. Und auch als die mich besser kennenlernten, war auch hier alles im grünen Bereich. Einige Eltern und Geschwister meiner Ex grüßen nach all den Jahrzehnten immer noch.
Als Kind und Teenager hatte ich außer gelegentlichem Nasenbluten keine weiteren Probleme mit dem "Blutschwamm".
Im Alter von etwa 18 Jahren stellte ich fest, dass der Gaumen gewachsen war. Da ich dachte, ich hätte eine Entzündung am Zahn, bin ich zum Zahnarzt gegangen. Dieser war meiner Meinung, nahm ein Skarpel und schnitt da kurz rein. Leider kam nur Blut raus. Der Zahnarzt stoppte die Blutung und ich konnte gehen. Da ich keine weiteren Probleme mit dem Gaumen hatte, bin ich auch nicht zu einem anderen Arzt gegangen.
Habe lieber den Führerschein gemacht, um mit meiner Clique in die Discos außerhalb unserer kleinen Stadt fahren zu können. Bin zwar ab und zu blöd angesprochen worden, aber das war mir egal. Ich konnte ja schon damit umgehen. Das Gaffen legte sich, wenn die Leute einen öfter gesehen haben. Das ist auch heute noch so.

In den darauf folgenden Jahren hatte ich keine weiteren Probleme. Bis kurz vor meinem 30 Geburtstag.

Der Gaumen war inzwischen bis zur Zahnspitze angewachsen und fing des öfteren beim Essen oder sogar beim Lachen an zu Bluten. Hinzu kam noch ein so starkes Nasenbluten, dass mein HB-Wert auf 6,9 sank. Im Krankenhaus konnte man mir nicht helfen, da kein HNO-Arzt anwesend war. Dort hat man nur mein blutverschmiertes Gesicht mit Alkohol gereinigt. Von dort sind wir selber mit dem Auto, kein Krankenwagen, zur 30 KM entfernten HNO-Klinik gefahren. Hier bekam ich erst mal einen Anpfiff, weil ich die Bereitschaftsärztin geweckt habe und nach Alkohol roch. Sie meinte erst ich wäre besoffen gefallen oder so. Ob sie das auch wohl tagsüber gedacht hätte? Sie verödete aber trotzdem die blutende Stelle in der Nase.

Kurze Zeit später wurde ich in der Uni-Klinik Bochum vorstellig. Hier hörte ich zum ersten mal einen anderen Namen meiner Erkrankung, -Arteriell-Venöse Malformation-.
Die Ärzte sprachen trotzdem von einem Tumor.

Nach einer Angiographie wurde 2 Wochen später meine erste Embolisation mit kleinen Gelkügelchen durchgeführt.. Nach einer Woche konnte ich morgens nach Hause. Abends war ich mit hohem Fieber und einen Entzündungsherd an der Nase wieder in der Klinik. Allergische Reaktion oder zu viel Embolisat. Genau weiß das keiner. Behandelt wurde ich dann mit Cortison. Ich hab´s überlebt und die leichten Blutungen am Gaumen waren auch weg.

Zwei Jahre später fing es allerdings wieder an zu bluten. In der Uni Münster erfolgte erst nochmal ein Versuch zu embolisieren, diesmal aber mit flüssigen Gel.
Aufgrund des starken Blutflusses wurde die Behandlung jedoch abgebrochen. Zwei Tage später wurde vom Professor der Mund-, Kiefer- und Gesichts-Chirugie der Gaumen bis auf die Knochen sowie zwei Backenzähnen entfernt, die bereits vom "Tumor" absorbiert waren. Nachdem die Fäden zwei Wochen später morgens entfernt wurden, fing es abends aus der Wunde sehr stark an zu bluten. Diese wurde durch abdrücken gestopt. Danach musste ich eine speziell angefertigte Gaumenplatte tragen, als eine Art Druckverband, bis die Wunde verheilt war.
Diese OP am Gaumen war ein voller Erfolg. Nach mittlerweile 18 Jahren ist der "Tumor" nicht wieder gewachsen.

Da das ja alles nicht ganz so einfach war, bin ich ein Jahr später zur Rehabilitation in den Schwarzwald gefahren. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Leider bekam ich nach fast drei Wochen starkes Nasenbluten. Die Ärzte in der Reha-Klinik hatten etwas Panik. Sie kannten ja so starke Blutungen gar nicht.
Der ortsansässige HNO-Arzt führte eine Not-OP durch, um die Blutung zu stoppen Nach drei Tagen wurde ich nach Münster zu meinen MKG-Chirugen verlegt.

Nachdem alles überstanden war, vermittelte mich der Prof zu einem Neuroradiologen nach Hessen. Dieser embolisierte mich bei 5 Klinikaufenthalten insgesamt 15 mal. Jeden dritten Tag eine Sitzung, die ca. 4-5 Stunden dauerte, alles ohne Narkose. Ich hörte und spürte dabei stellenweise den Katheder und alles was reingespritzt wurde. Die Tränen flossen von ganz alleine bei den Schmerzen. Ich frage mich heute, wie ich das ausgehalten habe. Bei jeder Sitzung wurden starke Röntgenstrahlen eingesetzt. Als Folge davon fielen mir die Haare an der Stelle aus, die den Röntgenstrahlen ausgesetzt waren. Die sind aber schnell nachgewachsen.
Trotzdem gaben mir diese Behandlungen Sicherheit und nahmen wir etwas Angst vor weiteren starken Blutungen.

Die Behandlung in Hessen war dann erst mal abgeschlossen, da nichts mehr embolisiert werden konnte.

In 2005/2006 fing der "Tumor" an der Nase und Lippe an zu wachsen. In einer Hautklinik wurde in 2 OPs etwas vom Tumor entfernt. Etwa 2 Jahre später fing alles an zu wuchern. An der Nase entwickelten sich Entzündungen, die regelmäßig bluteten. Darauf hin wurde ich von dieser Hautklinik nach Berlin überwiesen. Dort erfolgte eine Laserbehandlung. Vor weiteren Behandlungen sollte jedoch noch weitere Embolisationen in Eberswalde durchgeführt werden und danach ein chirurgischer Eingriff.
Nach 6 Embos erfolgte im August 2012 die große OP an der Nase in Berlin.

Für mich war das bis jetzt ein voller Erfolg. Eine weitere OP ist in Planung.

Die Leute gaffen nicht mehr so viel. Aber da ich ja immer unter Menschen war, kann ich damit umgehen. Das Gaffen liegt ja auch in der Natur des Menschen. Ich schließe mich da auch nicht aus. Es sollte aber die Höflichkeit gewahrt bleiben. Aber einige "Idioten" gibt es immer. Und wenn sie in Rudel auftreten, ist sogar immer ein "Oberidiot" dabei.
Und wie heißt es so schön. " Diskutiere nicht mit einem Idioten, der zieht dich auf sein Niveau herunter und schlägt dich mit Erfahrung".

Man(n, Frau) sollte sich deswegen nicht die Lust am Leben nehmen lassen. Dafür ist das Leben zu schön. Ich selber habe in meinen ersten 50 Lebensjahren so viele nette, freundliche, liebenswerte, hilfsbereite usw., einfach tolle Leute kennen und lieben gelernt.

Mal sehen wie die nächsten 50 Jahre werden.

(WH)

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