von Hartmut G.

Ganz offensichtlich habe ich einst das Licht eines Kreissaales in Guben, einer Stadt an der polnischen Grenze, erblickt. Mir selbst fehlt daran aber jede Erinnerung. So bin ich für die ersten Jahre auf die Erzählungen meiner Mutter angewiesen:

Seit 1971 soll ich zuerst ein ganz normales Kind gewesen sein. Ein „Rückwärtskriecher“ bis ich eines Tages aufstand und meinen ersten Schritt vorwärts tat. Meine Mutter fand meine Bemühungen fortan als Zweibeiner die Welt zu erkunden zuerst auch recht angenehm. Das änderte sich jedoch, als sie bemerkte, dass ich das rechte Bein irgendwie seltsam „an der Seite vorbeischleuderte“ (O-Ton meiner Mutter). Was meine Mutter irritierte, fand meine 10 Jahre ältere Schwester „Klasse“ (sagt meine Mutter – meine Schwester will davon allerdings nichts mehr wissen, hält es allerdings auch nicht für ganz ausgeschlossen). Meine Schwester animierte mich also zu ihrer (und ihrer Freundinnen) Erheiterung immer wieder zu laufen. Da ich aber augenscheinlich auf diese Situationen recht zufrieden reagierte, blieb auch alles dabei.

Mit drei Jahren stellte Mutter fest, dass sich an meinem rechten Oberschenkel hinten eine „Beule“ bildete. Also ging sie mit mir zum Kinderarzt, der mich in das nächstgrößere Krankenhaus überwies und dort dann diese „Beule“ entfernt wurde. Was das war, warum das war und was das für Auswirkungen hat wollte meine Mutter von den Ärzten wissen, konnte jedoch keine Antwort bekommen, mit der sie hätte etwas anfangen können: Zwei Ärzte = drei Meinungen.

Mir selbst ist davon nichts in Erinnerung, aber meine Schwester fand es „unglaublich“, dass ich nach der OP ein Kipper-Auto geschenkt bekommen hatte. So ein ganz „großes“, wo ich mich in die Ladefläche setzen und dann damit herumfahren konnte. Und schon bewegte ich mich mit Vorliebe wieder rückwärts durch die große weite Welt …

Meine Mutter gab jedoch nicht auf, da sich meine zweibeinische Gangart noch immer deutlich von der anderer Kinder unterschied und so war ich regelmäßig bei Kinderärzten zu Gast. Die bescheinigten mir ein ganz normales Kind zu sein, bis auf diese „Unregelmäßigkeit“ (so zitiert meine Mutter). Dabei fiel wohl auch das erste Mal der Begriff „Klippel-Trenauney-Syndrom“. Was das aber sein soll, konnte mir meine Mutter nie so richtig erklären. Ich vermute mal, weil ihr das auch keiner erklären konnte.

Inzwischen „schleuderte“ ich mein rechtes Bein auch nicht mehr an mir vorbei, sondern hatte mir angewöhnt, das Bein ebenso wie alle anderen Kinder unter dem Körper durchzuziehen. So lief ich jetzt hinkend, da ich das System mit dem „Ferse-zuerst-aufsetzen“ nicht anwandte und das Knie beim Laufen nicht durchdrückte. Nun begann es auch, dass ich über Schmerzen im rechten Bein klagte – immer wenn ich lange ruhig sitzen oder weite Strecken laufen musste, aber manchmal auch einfach so „aus heiterem Himmel“ wie meine Mutter das nennt. Alles in allem blieben die Ärzte und meine Mutter aber ratlos und begannen sich mit meinen Anfällen zu arrangieren.

Dann begann die Schulzeit und es war wie für fast alle: Der erste Schultag war einfach großartig und meine Schultüte sogar größer als ich. Naja, und ich war wie fast alle anderen Jungen meiner Klasse in unsere Lehrerin verliebt, aber dann wurde dieses Fach „Schönschreiben“ benotet, was meine Liebe jäh beendete. Mit meinen Mitschülern hatte ich während meiner gesamten Schulzeit eigentlich Glück. Dieses „Kinder können so grausam sein“ ist nicht in meiner Erinnerung vorhanden. Einzig meine Mutter setzt im trauten Kreis zu Anekdoten an, kommt aber auch zu dem Fazit, dass diese Vorfälle nicht übermäßig waren.

Einziger Makel meiner Erinnerungen an die Grundschulzeit ist eigentlich, dass ich beim „Fange-Spielen“ auf dem Schulhof so erbärmlich leicht zu fangen war und es so schwer war, ein anderes Kind zu erhaschen. Ok, und der Schulsport: Ich war zwar nie der letzte der gewählt wurde (das war der „Dicke“) für Staffel- oder Fußballspiele, aber immerhin kurz davor. Und diese „Aufwärmrunden“ zu Beginn der Stunde …

So ab der vierten Klasse haben die Ärzte dann richtig losgelegt: Bewegungs- und Laufübungen. Das mir dieses „Bein strecken – Knie durchdrücken – Ferse zuerst aufsetzen“ einfach nur extrem weh tat, wurde nicht verstanden. Doch die Stunden gingen vorüber (wahrscheinlich durch Intervention meiner Mutter) und wurden nicht mehr allzu häufig wiederholt.

Ne ehe unangenehme Therapieform war auch die „Wassermassage“. Da wurde ich in einen gekachelten Raum geführt und mein gesamtes rechtes Bein mit mal wärmerem und mal eiskaltem Wasser abgespritzt. Damit ich vom Wasserdruck nicht weggefegt wurde, durfte ich mich aber festhalten. Ich fand diese Aktion zwar unangenehm aber nicht wirklich schlecht: Es war zwar schmerzhaft, aber am nächsten Tag konnte ich nicht zur Schule gehen und im Laufe der Zeit konnte ich jedes Mal noch bis zu zwei weiteren schulfreien Tagen erschleichen. Meine Lehrer haben das wohl zuerst durchschaut – die Klassenarbeiten wurden immer dann geschrieben, wenn ich wieder da war. Und bald wurde die ganze Aktion abgebrochen, da außer meiner zusätzlichen Freizeit und der zusätzlich geförderten Durchblutung des Beines keine weiteren Veränderungen festgestellt werden konnten.

Nach diesem „medizinischen Fehlschlag“ wurde es mit orthopädischen Schuhen versucht: Ich fand schon den Begriff nicht schön, aber das Aussehen der Schuhe schlug meine Antipathie dann noch um Längen. (Dies soll sich ja heute deutlich gebessert haben.) Im Sommer konnte ich mich dann auch bei meiner Mutter durchsetzen und durfte wieder ganz normale Sandalen und Schuhe tragen. Und als wieder die Zeit der Winterschuhe kam, war das Thema endgültig und dauerhaft vom Tisch – ähm, wollte sagen: aus dem Schuhschrank.

Inzwischen hatte ich einen Spruch auswendig gelernt, denn ich immer aufsagte, wenn mich irgendwer (egal ob Bekannte, Lehrer oder Ärzte) nach meinem rechten Bein fragte und die alle Informationen wiedergaben: „Angeborene Venenentzündung, Hämangion am rechten Unterschenkel und `ne zu kurze Sehne im Knie“.

Ein Jahr lang durfte ich auch Falithrom (Gerinnungshemmer) schlucken und natürlich regelmäßig die Werte überprüfen lassen. Ich fand das ganze nur nervig: Wollte ich ins Wasser springen, wurde meine Mutter bleich … kam ich mit aufgerissener Haut von Draußen zurück, gab’s Vorträge … und immer dieses „Du musst vorsichtig sein“. Und obwohl mir die Sportbefreiung zuerst wie ein 6er im Lotto vorkam, immer nur den anderen zugucken war höchst langweilig.

Die Sehenenverkürzung im Knie wollten die Ärzte auch beheben. Sie narkotisierten mich und als ich wieder aufwachte, hatte ich ein Gipsbein. Das ganze Bein von oben bis unten. Das rechte Bein war zum ersten Mal wieder durchgestreckt, seit ich angefangen hatte, das Bein nicht mehr zu „schleudern“. Das tat einfach nur extrem weh. Die erste Zeit habe ich dann auch fast nur unter Schmerzmitteln gestanden. Nach einiger Zeit meinten die Ärzte nun sei es genug und der Gips kam wieder ab. Und tatsächlich, das Kalkül der Ärzte war aufgegangen: das Bein war gestreckt und ich hatte das Laufen verlernt. Also wurde es mir wieder beigebracht. Sehr zum Verdruss aller, zeigte sich aber sehr schnell, dass ich das System von dem „Ferse-zuerst-aufsetzen“ nicht der Norm entsprechend erlernte und schnell wieder zu meinem bekannten Zehenlauf zurückkehrte. Auch das Tragen der nächtlichen Schiene, die auf Grundlage des Gipsabdruckes gefertigt wurde, änderte nichts daran.

Nun entwickelte sich an der rechten Wade wieder eine deutliche „Beule“. Dieses Hämangion verursachte mir auch Schmerzen.

Meine Mutter und diese Veränderung hatten es nun endlich geschafft, die regionalen Ärzte zu überzeugen. Jetzt ging es an die Universitätsklinik von L., damals eine Halbtagesreise mit Bus und Bahn von meinem Wohnort entfernt. Dort war ich dann erstmal mehrere Wochen „zur Beobachtung“. Bei den wöchentlichen Besuchen meiner Mutter musste ich dann auch immer ganz genau erzählen, was alles war. Ein Bericht hatte meine Mutter dann aber richtig aufgeregt, sie stürzte aus dem Zimmer und wir hörten sie mit dem anwesenden Doktor recht laut – nun, nennen wir es heute mal: diskutieren. Mir war das höchtsgradig peinlich und verstanden worum es ging, habe ich erst einige Jahre später: Ich war von unserer Station zu einer Ärztin geschickt worden, die mir u.a. Karten gezeigt hatte und ich die Darstellungen erklären sollte. Das war auch ganz leicht: Ein Brot und ein Haus und so … das war kein Problem. Das Problem war eher, dass ich mir die ganze Zeit überlegte, was das soll und wie genau ich die Bilder beschreiben müsse.

Damals wurde mir zum ersten Mal bescheinigt, dass ich nicht verrückt bin. Vielleicht währe es aber besser gewesen, meine Mutter vorher über diesen Test zu informieren …

Trotz des Eklats blieb ich dort in Behandlung. Mein Lieblingsdoktor, noch recht jung, setzte bei seinen erfahrenen Kollegen durch, dass ich operiert werden sollte. So nach dem Motto: „Die Schmerzen bildet der Junge sich nach psychologischem Urteil ja nicht ein und die Beule ist zu sehen. Also muss da auch was sein.“ So kam ich unters Messer und als ich wieder aufwachte, war die Beule weg. Seitdem ist diese Region erfreulich schmerzfrei geblieben.

Die Uni-doktoren versuchten es dann auch noch mal mit einer nächtlichen Schiene und auch mit dem Eingipsen des rechten Beines. Der erwünschte Erfolg blieb aber weiterhin jedes Mal aus. Die Ärzte legten mir 14jährigem Teenager nahe, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich mit spätestens 30 Jahren im Rollstuhl sitzen werde.

Kurz vor Ende der zehnten Klasse hatten die Uni-doktoren dann die Idee meine Gehbehinderung mit einer Sehnenverlängerung zu korrigieren. Meine Mutter war einverstanden und ich war der Aussicht auf ein „so-sein-wie-die-Anderen“ noch immer nicht ganz abgeneigt, wenngleich ich mit meiner „Andersartigkeit“ recht gut klar kam und mir eine Leben „ohne“ nicht wirklich vorstellen konnte. So kam ich wieder auf den OP-Tisch: Diesmal wurde die Achilles-Sehne eingeschnitten und gezogen. Die Idee dabei war, dass ich dann zwar immer noch nicht das Knie durchdrücke, dann aber die Ferse bis zur Erde reicht. Der Erfolg der Aktion: Ich hatte eine OP-Narbe mehr und war glücklich, dass ich zur Abschlussfeier wieder an der Schule war. Zehenläufer bin ich bis heute.

Nun begann die Lehrzeit. Ich zog zu Hause aus und wurde angeblich „erwachsen“. Mein „Klippel-Tre-dingens-Syndrom“ (der Begriff hatte sich inzwischen durchgesetzt – ich machte mir aber nie die Mühe die Aussprache zu lernen) ignorierte ich einfach. Die Stunden und Tage, die sich schmerzhaft bemerkbar machten, kurierte ich selbst … nach einigen Versuchen vorzugsweise mit Whiskey und Bier. Von Ärzten hatte ich genug. Vor meiner Mutter tat ich immer so, also hätte ich das alles im Griff – von meiner Behandlungsmethode wusste sie nichts. Im Laufe der Jahre klappte das mit dem „Ignorieren“ auch immer besser, so dass ich selbst die Anfälle ohne Alkohol überstand und einfach wartete, bis es wieder vorbei war.

Das nächste Mal beim Arzt wegen des KTS war ich 16 Jahre später in Duisburg (Ruhrgebiet). Da inzwischen fast alle Dokumente vernichtet waren, begann erst Mal ein Lauf durch die verschiedenen Abteilungen des Ärztewesens. Hausarzt, Rückenspezialist, parallel Gefäßchirurg und alle Untersuchungen: Röntgen, „Röhre“, Phlebographie und so weiter.

Zusätzlich hatte ich das zweifelhafte Vergnügen einer Behandlung durch einen Schmerztherapeuten. Dieser gab mir für den täglichen Gebrauch einen Riesenvorrat an Tabletten – u.a. Vioxx und Bextra. (Vioxx wurde übrigens kurze Zeit später vom Markt genommen, wegen der äußerst unangenehmen Nebenwirkungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Ich hatte mal wieder Glück: mir hat Vioxx während der Wirkung nur das Gehirn weggeschossen. Als Schmerzmittel habe ich immer noch ein paar Bextra rumliegen, nehme sie aber nur sehr selten.)

Oh, und beim Psychologen war ich auch noch mal: Wir konnten uns grinsend darauf verständigen, dass ich für meinem Job schon ein bisschen verrückt sein muss …

Schließlich die Überweisung an Dr. Kröger in der Uni-Klinik Essen.

Den letzten großen „Anfall“ hatte ich vor zwei Jahren. Während der Fahrt auf der Autobahn beginnt es und ich kann ohne Unfall auf einen Parkplatz ausweichen. Von dort werde ich von Freunden abgeholt und in der Angiologie in Essen wird ein „dunkler Fleck“ im Knie festgestellt. Plötzlich taucht auch das Wort „Thrombose“ auf. Da ich bisher immer dachte, dass dies unweigerlich tödlich endet, habe ich mir da wohl zum ersten Mal ernsthaft Gedanken gemacht. Aber ein halbes Jahr Heparin und Macomar ließen den „Fleck“ verschwinden. Nun trage ich meist einen Kompressionsstrumpf.

Bei meinem Hausarzt bin ich immer noch und im akuten Fall bei Dr. Kröger.

Ach, bevor ich es vergesse: Die Welt ist zwar schlecht, aber das Leben, das ist schöööööööööön! Sogar auf zwei Beinen! Ich bin jetzt 36 Jahre alt, sitze noch immer nicht im Rollstuhl und weiß keinen Grund, warum ich damit anfangen sollte …

H., Duisburg, März 2007

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